Statement zur Ausstellung
Antonio Marra, 04.08.2025
Was ist Wahrheit? Und wer bestimmt sie?
In einer Welt, in einer Gesellschaft, die sich nach Gewissheiten sehnt, stelle ich eine unbequeme Behauptung in den Raum: Die Wahrheit gibt es nicht.
Dieser Satz ist für mich keine Kapitulation. Er ist Ausdruck meiner künstlerischen Haltung, meiner subjektiven Wahrnehmung in einem komplexen Universum.
Ich male Bilder, die sich dem Betrachter entziehen – oder besser, sich vervielfachen. Ein Werk zeigt nicht eine Komposition, sondern mindestens zwei. Von links betrachtet öffnet sich eine horizontale Ordnung in Schwarz-Weiß. Von rechts erscheint dasselbe Bild als farbige, diagonale Struktur. Was der eine sieht, bleibt dem anderen verborgen.
Und doch ist beides in einem einzigen Bild enthalten. Ich male Bilder, die sich dem Auge als Ganzes entziehen. Ein Bild, das nie in seiner Gänze erfassbar ist. Das ist einer der zentralen Impulse meiner Malerei.
Man kann immer nur einen Teil des Ganzen wahrnehmen. Wenn ich – wie beschrieben – die linke Seite eines Bildes betrachte, sehe ich, was dort ist. Aber ich weiß zugleich, dass auf der rechten Seite eine völlig andere Komposition existiert: Andere Farben. Ein anderer Rhythmus.
Dieses Wissen, dass etwas existiert, das ich nicht sehe – obwohl es da ist – das erzeugt Spannung. Eine innere Unruhe. Etwas Metaphysisches.
Es ist wie der Blick in den Nachthimmel: Ich sehe Sterne – und weiß doch, dass dahinter Milliarden anderer Welten verborgen sind. Ich sehe sie nicht. Und doch weiß ich, dass sie da sind.
So funktioniert auch meine Malerei. Ich sehe eine Seite – und weiß von der anderen. Dieses Spannungsfeld zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, zwischen Wissen und Nicht-Sehen, ist das emotionale Zentrum meiner Arbeit.
Meine Bilder zwingen den Betrachter, seine Position zu verändern – im wörtlichen wie im geistigen Sinn. Denn erst wenn wir bereit sind, die Perspektive des Anderen einzunehmen, erkennen wir, dass unsere eigene Wahrnehmung niemals vollständig ist.
Wer glaubt, im Besitz der Wahrheit zu sein, wird bei mir eines Besseren belehrt.
Der Titel dieser Ausstellung ist Einladung und Warnung zugleich: Einladung, das starre Denken zu verlassen. Warnung, dass jede Wahrheit auch Ausschluss bedeuten kann.
In einer Zeit, in der Ideologien laut schreien, flüstert meine Kunst: Schau genauer hin. Geh einen Schritt zur Seite.Vielleicht siehst du dann, was dir bislang verborgen blieb.
Die Wahrheit liegt nicht im Bild. Sie liegt im Schritt, den du wagst, um es anders zu sehen. Denn Wahrheit entsteht nicht im Besitz, sondern im Wagnis des Perspektivwechsels. Genau dort beginnt meine Kunst.
Künstlergespräch mit Antonio Marra
Moderation: Ren Rong